Die Fidesz-Verfassung
Zu Beginn des Jahres 2012 trat in Ungarn eine neue Verfassung in Kraft, die der regierende nationalkonservative Fidesz seit Langem als prioritäres Ziel definiert hatte. Aufgrund einer Zweidrittelmehrheit der Parlamentsmandate, über die der Fidesz und sein Bündnispartner nach den Wahlen im April 2010 verfügten, konnte die neue Verfassung ohne Mitsprache der Oppositionsparteien gestaltet werden. Wegen mangelnder Einflussmöglichkeiten hatten sich die beiden zentralen Oppositionsparteien, die sozialistische MSZP und die liberale LMP, schließlich aus dem Ausschuss zurückgezogen, in dem die neue Verfassung erarbeitet wurde. Ein zentraler Kritikpunkt war, dass die Verfassung eine konservative Ideologie als Staatsdoktrin festschreibe (z.B. die Definition der Ehe als Bündnis zwischen Mann und Frau, die Definition der Präambel als "nationales Glaubensbekenntnis", der Bezug zur "nationserhaltenden Rolle des Christentums", und auf die "jahrhundertelangen Kämpfe", in denen Ungarn Europa verteidigt habe). Wichtige Neuerungen der Fidesz-Verfassung sind: Die Bestimmungen der neuen Verfassung ermöglichten dem Fidesz, richtungsweisende Gesetze zu verabschieden, die später schwer zu verändern sind. Außerdem können Folgeregierungen erheblich behindert werden. Auf die vielfachen Proteste aus der Zivilgesellschaft und internationalen Akteuren wie der Venedig-Kommission des Europarats oder der UNO reagierte die Führung des Fidesz abweisend. Die neue Verfassung zielte bewusst auf eine Veränderung der Strukturen, bei der es um politische wie auch symbolische Fragen gehe (so Justizminister Tibor Navracsics in: Navracsics: politikai és szimbolikus kérdésekről szól az alkotmánymódosítás, Népszabadság, 6.9.2010). Ministerpräsident Orbán erklärte, seine Regierungszeit verkörpere die "Wiedergeburt Ungarns", und dies sollte sich auch in der Verfassung widerspiegeln (Viktor Orbán in: Auferstanden?, Pester Lloyd, 25.4.2011). In den Monaten nach Verabschiedung der Verfassung wurden zahlreiche Anpassungen vorgenommen. Die bislang einschneidendste Modifizierung erfolgte im März 2013 (vierte Verfassungsänderung), nachdem das Verfassungsgericht die Mehrzahl der 28 Artikel der sogenannten "Übergangsbestimmungen" für verfassungswidrig erklärt hatte (darunter die Vorabregistrierung der Wähler bei Wahlen und das auf Ehe und Familie ausgerichtete Gesellschaftsmodell). (hierzu: Nem tetszik az AB-nek Orbánék családmodellje, Népszabadság Online, 17.12.2012; Stephan Löwenstein: Ungarns selbstbewusste Judikative, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.1.2013) Die vierte Verfassungsänderung im März 2013 umfasste folgende Neuerungen: Am 16. September beschloss die Regierung nach internationalen Protesten eine weitere Verfassungsänderung, in der die am schärfsten kritisierten Regelungen annuliert wurden. Dies betraf die Möglichkeit, Strafzahlungen als Sondersteuern auf die Bürger umzulegen, die Entziehung von Gerichtsverfahren durch den Präsidenten des Nationalen Gerichtsamts sowie die Beschränkung von Wahlwerbung auf öffentlich-rechtliche Medien. Weitere umstrittene Regelungen blieben bestehen, weshalb Human Rights Watch die Änderungen als "weitgehend kosmetisch" kritisierte. (vgl. Ungarn: Verfassungsänderungen unzureichend, http://www.hrw.org/de/news/2013/09/18/ungarn-verfassungsaenderungen-unzureichend) Heiko Fürst - http://fuerst.elektronischesnetz.de/alkotmany.html |
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