Die Konfliktlage in Rumänien
Die Forderung nach Bildungsrechten
Dem hohen Bedeutungsmaß der hauptsächlich verwaltungspolitischen
Forderung nach Autonomie entsprach auf kulturpolitischer Ebene die nach
ungarischsprachigen Bildungsinstitutionen auf allen Ebenen. Dieses Politikfeld
erlangte eine hohe Mobilisierungsmacht, weil die siebenbürgischen Ungarn
als Folge der Assimilierungspolitik Ceauşescus staatliche Bildung in der
Muttersprache als unabdingbar betrachteten, um ihre Identität und Kultur,
d.h. ihr Überleben als Ungarn in der rumänischen Gesellschaft als
gewährleistet zu sehen. Im Jahre 1990 begannen Wiedergründungen
einiger separater Institutionen. Durch den Regierungsbeschluss 521 wurde
im Mai 1990 das Bildungsgesetz von 1978 suspendiert, sodass das gesamte Bildungswesen
bis 1995 ohne grundlegende Regelung blieb und lediglich auf Regierungsdekreten
basierte. Die Regellosigkeit dieser Situation und die Tatsache, dass der
Beschluss im Vergleich zu dem alten Bildungsgesetz einige Einschränkungen
für Bildung in Minderheitensprachen brachte
34 , ließ
eine hochgradig politisierte Atmosphäre entstehen.
35
Verschärft wurde diese dadurch, dass die Verfassung von 1991 für
Angehörige nationaler Minderheiten zwar prinzipiell das Recht garantierte,
in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden, dies aber durch den Zusatz
„the ways to exercise these rights shall be regulated by law“ einschränkte
und zugleich festsetzte, dass „education of all grades shall be in Romanian“.
36
Die Bestimmungen sowohl des Beschlusses 521 wie auch der Verfassung sind
ambivalent und konnten es somit nicht leisten, die hitzige Debatte abzukühlen.
Diese Situation erregte Besorgnis auch bei internationalen Akteuren, die
dazu aufriefen, ein Bildungsgesetz schnellstmöglichst zu verabschieden.
37
Der erste Entwurf eines neuen Bildungsgesetzes, den der Bildungsminister
im Jahre 1992 vorgelegt hatte, war gefolgt worden von über 2.000 Ergänzungsvorschlägen
diverser Akteure.
38 Der Ungarnverband initiierte nach
einer Unterschriftenaktion im Juli 1994
39 , bei der er innerhalb
von drei Wochen eine halbe Million Unterschriften sammelte, einen eigenen
Gesetzesantrag, der den Minderheiten die Freiheit einräumte, autonome,
öffentliche Bildungseinrichtungen auf allen Ebenen zu organisieren.
40
Der Entwurf wurde vom Verfassungsgericht geprüft und für verfassungskonform
befunden, dennoch lehnte das Parlament die Diskussion des Antrags ab.
Dies betrachtete die ungarische Gemeinschaft als Signal, „that efforts
to promote their interests through legal and democratic means would simply
be ignored”.
41 Am 24. Juli 1995 unterzeichnete Ion Iliescu
das neue Bildungsgesetz 84/1995
42 , nachdem das Verfassungsgericht
eine Woche zuvor eine Verfassungsklage des RMDSZ abgewiesen hatte. Das
Gesetz löste bei der ungarischen Minderheit einen Sturm des Protests
aus. Der für radikale Töne bekannte Weltverband der Ungarn bezeichnete
es gar als „Erscheinungsform diktatorischer Restauration“. Minderheitenvertreter
fürchteten eine zwangsweise Assimilation, indem nun selbst dort,
wo bislang nicht auf Rumänisch unterrichtet wurde, dies nun initiiert
werden könne
43 , und in der Konsequenz die erforderliche
Mindestzahl an Schülern/Schülerinnen für minderheitensprachlichen
Unterricht nicht mehr erreicht werden könnte. Weitere Bestimmungen
schränkten den Unterricht in der Muttersprache erheblich ein. Im Herbst
1995 erreichten die interethnischen Beziehungen in Rumänien daraufhin
einen Tiefpunkt. Ergänzungen zum Bildungsgesetz hielten auch internationale
Organisationen für wünschenswert
44 , dies allerdings
war aufgrund der verhärteten Fronten bis zu den Wahlen im November
1996 unmöglich.
Während der Anteil der Ungarn, die in irgendeiner Form Unterricht
erhalten hatten, im Jahre 1992 mit 98% über dem Landesdurchschnitt
lag, stellte sich die Situation in Bezug auf den Bereich, auf den sich
der HKNM in der dritten Arbeitsphase konzentrierte, dem der Hochschulbildung,
anders dar. Mitglieder der ungarischen Volksgruppe waren zu Beginn der
neunziger Jahre in Bezug auf Hochschulbildung mit 3,6% eines Jahrgangs
im Vergleich zum Landesdurchschnitt von 5,1% deutlich unterrepräsentiert
45
, weshalb zentrale Forderungen im Bildungssektor sich auf die Hochschulbildung
konzentrierten, insbesondere die Wiedereröffnung der ungarischsprachigen
Bolyai Universität in Cluj, der zentralen Bildungseinrichtung der
Ungarn mit symbolischer Bedeutung. Diese wurde 1959 mit der rumänischen
Babeş Universität zur Babeş-Bolyai Universität zwangsvereinigt
und in der Folge ungarische Strukturen innerhalb der Universität stetig
abgebaut. Während im Jahr 1959 noch 2.470 ungarische Studenten an
dieser Universität eingeschrieben waren, sank deren Zahl auf 661 im
Jahre 1989.
46 Im Jahre 1965 graduierten noch 90% der an
der Babeş-Bolyai Universität eingeschriebenen Studierenden in den
ungarischen und nur 10% in den rumänischen Sektionen. Dieses Verhältnis
hatte sich im Jahr 1994 genau umgekehrt.
47 Nachdem der Ministerpräsident
Petre Roman bereits Anfang 1990 die Wiedereröffnung einer staatlichen
ungarischen Universität verkündet hatte, forderte dies auch der
RMDSZ in seinem im April 1990 verabschiedeten Programm.
48
Bereits am 17. März war die Bolyai Gesellschaft gegründet worden,
deren erstrangiges Ziel in der Etablierung einer eigenständigen ungarischen
Hochschulbildung in Rumänien bestand.
49 Die Eröffnung
einer solchen Institution war ursprünglich schon für Herbst
1990 geplant, wurde dann aber verschoben.
50 Mit der Annäherung
der FSN an die extremistischen Parteien wurde die Wiedergründung
immer unwahrscheinlicher. Bei einem Treffen der Kultusminister Rumäniens
und Ungarns, Liviu Maior und Ferenc Mádl, in Oradea im Mai 1993
verkündete Maior bereits, eine staatlich finanzierte ungarische Universität
in Rumänien sei nicht zeitgemäß. Im gleichen Monat teilte
der Sprecher Ion Iliescus dem Präsidenten der Bolyai Gesellschaft,
Sándor Balázs, mit, die Wiedergründung der Bolyai Universität
sei als „Maßnahme der Segregation“ abzulehnen.
51 Im Zuge
der Nationalisierung des Minderheitendiskurses in der rumänischen Gesellschaft
hinterfragte ein signifikanter Anteil der rumänischen Elite die Notwendigkeit
eigener minderheitensprachlicher Bildungsstrukturen, die mit Forderungen
wie der Garantie dafür, „hogy a nemzeti kisebbségek alaposan
elsajátítsák az anyanemzet történetét
és kultúráját“
52 [dass die nationalen
Minderheiten sich die Geschichte und Kultur der Mutternation grundlegend
aneignen] können sollen, als autonomistische Keimzelle des Separatismus
galten.
53 Dies betraf insbesondere die Wiedereröffnung
der Bolyai Universität, die der Ungarnverband beständig forderte
und selbst in seinem Vorschlag für ein Bildungsgesetz der nationalen
Minderheiten von 1994 verankerte (Art. 16). Im Bildungsgesetz 84/1995 wurden
der Neugründung nichtrumänischsprachiger Hochschulsektionen enge
Grenzen gezogen und die Restituierung der Bolyai Universität somit
verboten (Art. 122, 123). Die Wiedergründung musste daraufhin von
den siebenbürgischen Ungarn vertagt werden, blieb aber als mittel-
bis langfristige Zielsetzung zentral.
54
weiter: Zur Entstehung der Konfliktlinien
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34 hierzu
Maria Miclescu: Das rumänische Bildungswesen im Wandel. Köln,
Weimar, Wien: 1997. S. 95f.
35 vgl. Jan Sadlak: The Emergence of a Diversified
System: the state/private predicament in transforming higher education
in Romania. In: European Journal of Education 29 (1994), H. 1. S. 13-23.
S. 14; István
Horváth, Alexandra Scacco: From the Unitary to the Pluralistic:
Fine-Tuning Minority Policy in Romania. S. 267; zum Regierungsbeschluss
521 siehe Janusz Bugajski: Ethnic Politics in Eastern Europe. A Guide to
Nationality Policies, Organizations and Politics. New York, London: 1994.
S. 205.
36 Constitution of Romania.
Art. 32 (2) und 32 (3).
37 siehe beispielsweise Economic and Social Council
of the United Nations: Concluding Observations of the Committee on Economic,
Social and Cultural Rights: Romania. 30/05/94. E/C. 12/1994/4. Absatz
D, Ziffern 10 und 11; Parliamentary Assembly of the Council of Europe:
Opinion
No. 176 (1993) on the application by Romania for membership of the
Council of Europe. Ziff. 10 .
38 Cesar Birzea: Educational Reform and Power
Struggles in Romania. In: European Journal of Education 31 (1996), H.
1. S. 97-107. S. 102.
39 laut Art. 73 (1) der Verfassung ist eine Gesetzesinitiative
ab 250.000 Unterschriften möglich.
40 RMDSZ: Legislative Motion (Draft Bill on the
Native-Language Education of the National Minorities), 19 October 1994.
Art. 3.
41 István Horváth, Alexandra Scacco:
From the Unitary to the Pluralistic: Fine-Tuning Minority Policy in Romania.
S. 267 [Fn. 35].
42 Parliament of Romania: The New Education Law
in Romania. One of the most democratic in Europe. Hg. v. Government of
Romania, Publications Department. o.O.: o.J. Zur Diskussion des Gesetzes
siehe Renate Weber: The Protection of National Minorities in Romania: A
Matter of political Will and Wisdom. In: Law and Practice of Central European
Countries in the Field of National Minorities Protection after 1989. Hg.
v. Jerzy Kranz. Warszawa: 1998. S. 199-268. S. 215ff; S.O.S. Transylvania
– Geneva Committee: Fact Sheet. Romania’s Law on Education 84/1995. VII.
24. Geneva: 1995; Project
on Ethnic Relations: Schools, Language and interethnic Relations in Romania:
The Debate continues.
43 „Education at all levels is provided in Romanian
language. Classes in Romanian are organised and function in each locality“
(Parliament of Romania: The New Education Law in Romania. One of the most
democratic in Europe. Art. 8 (1) [Fn. 42]).
44 Parliamentary Assembly of the Council of Europe:
Resolution
1123 (1997) on the honouring of obligations and commitments by Romania.
Art. 6; das Europaparlament hatte das Gesetz bereits vor dessen Verabschiedung
im Juli 1995 kritisiert, woraufhin die rumänische Regierung dem Europaparlament
Unkenntnis der Lage vorwarf (Maria Miclescu: Das rumänische Bildungswesen
im Wandel. S. 110 [Fn. 34]).
45 Die ungarische Volksgruppe lag damit auf Platz
10 der laut Volkszählung aus dem Jahre 1992 insgesamt 17 ethnischen
Gruppen in Rumänien (Ungarn in Rumänien.
Einführung).
46 Government Office for Hungarian
Minorities Abroad: History of the Hungarian University of Cluj (Kolozsvár).
47 RMDSZ: Report concerning the situation of
the Hungarian Minority in Romania, August 1994. Punkt 2. o.O.: 1994.
S. 2.
48 RMDSZ: Program. Az RMDSZ I. Kongresszusán
1990. április 21–22-én elfogadott program. Art. 40.
49 vgl. das Statut der Gesellschaft (Bolyai Társaság:
Szabályzat, 1990, március 17. [Kolozsvár]: 1990.).
50 Jan Sadlak: Higher Education Reform in Romania:
Challenges and Responses. In: Higher Education Reform Processes in Central
and Eastern Europe. Hg. v. Klaus Hüfner. Frankfurt/Main, Berlin,
Bern, New York, Paris, Wien: 1995. S. 218.
51 Határon Túli
Magyarok Hivatala: A romániai magyarság történeti
kronológiája (1989–1999). 6. Mai 1993, 12. Mai 1993.
52 RMDSZ: Program. Az RMDSZ I. Kongresszusán
1990. április 21–22-én elfogadott program. Art. 39.
53 vgl. István Horváth, Alexandra
Scacco: From the Unitary to the Pluralistic: Fine-Tuning Minority Policy
in Romania. S. 266 [Fn. 35].
54 RMDSZ: Fundamental Principles of the Programme
of the Democratic Alliance of Hungarians in Romania. Adopted by the 4th
Congress of the DAHR. Cluj (Kolozsvár), the 26-28th of May 1995.
In: Democratic Alliance of Hungarians in Romania: Documents 4. Cluj: 1995.
S. 3-27. S. 13.