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Der Hohe Kommissar für Nationale Minderheiten (2)

Demokratisierungstheoretische Implikationen

Die Garantie von Minderheiten- und Menschenrechten muss nach Einsicht Max van der Stoels über ein gut funktionierendes demokratisches System gesichert werden, das die Würde des Menschen anerkennt.21  Diese Auffassung steht paradigmatisch für den Wandel der KSZE-Programmatik nach 1989. Sie impliziert, dass die ethnopolitische Kategorie in der Demokratie schwach sei. Im Folgenden möchte ich die auf dieser Hypothese beruhenden Veränderungen in den Demokratisierungsprozessen Osteuropas aufzeigen, die neben der Transformation der Strukturen (Makroebene) auf die Demokratisierung der politischen Akteure (Mesoebene) und die Herausbildung einer Zivilgesellschaft (Mikroebene) zielten.  Vor diesem Hintergrund soll der HKNM als Instrument der KSZE/OSZE expliziert werden, das dieser gewandelten Auffassung insbesondere durch die Arbeit auf der Meso- und Mikroebene Rechnung trägt.

Der erste Ausdruck des erweiterten Wirkungsfeldes der KSZE vollzog sich mit dem Abschlussdokument der Konferenz über die Menschliche Dimension im Juni 1990 in Kopenhagen. In Abschnitt I des Dokuments verpflichteten sich die Teilnehmerstaaten nicht nur auf den Schutz, sondern die Förderung von Menschenrechten und Grundfreiheiten, auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Pluralismus, freie und geheime Wahlen sowie eine repräsentative Regierungsform. Abschnitt II gewährleistet Grundrechte wie Versammlungs-, Vereinigungs-, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie das Recht auf Ausreise und Eigentum. In Abschnitt IV schließlich werden umfassende Rechte für nationale Minderheiten gewährt, auf die sich der Hohe Kommissar immer wieder berufen hat. Die knapp ein halbes Jahr später verabschiedete Charta von Paris für ein neues Europa bekräftigte diese weitreichenden Verpflichtungen nochmals und fügte das Bekenntnis zur Marktwirtschaft hinzu.

Sind die hier niedergelegten Bekenntnisse häufig noch formal-institutionellen Charakters, änderte sich die Frage nach Demokratie im Verlauf der „dritten Welle“ (Huntington)22  im Zuge der 90er Jahre. Das seit den späten sechziger Jahren in die Kritik geratene elitenzentrische Demokratiemodell Schumpeters verlor mit dem Ende der Blockkonfrontation und damit der Dualität zwischen „Demokratie“ und „Nicht-Demokratie“ an Boden und öffnete differenzierteren Betrachtungen des politischen Lebens in einem Staat weiteren Spielraum.  Hatte Schumpeter der klassischen Auffassung von der Herrschaft des Volkes, die nur Legitimierungskonstruktion für die Gott verlustig gegangenen Könige gewesen sei, ein „wirklichkeitsfremdes Ausmaß von Initiative“  bescheinigt, definierte er in seinem Modell die demokratische Methode als die „Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen“.  Die Hauptaufgabe des Volkes bestehe darin, eine Regierung hervorzubringen, und Demokratie sei daher nicht die Herrschaft des Volkes, sondern „die Herrschaft des Politikers“.23  Nach 1989, als es nicht mehr nötig war, möglichst viele Staaten unter ein wie auch immer geartetes Konzept von „Demokratie“ zu subsumieren, und die liberale Demokratie in hegelianischer Weise als nicht verbesserungsbedürftiges Ideal zum „Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit“24  stilisiert wurde, verlor das im Kontext der späten dreißiger Jahre entstandene Modell Schumpeters endgültig seine Relevanz. Die weitreichenden Verpflichtungen des Kopenhagener Dokuments sind Ausdruck dieser Entwicklung. Im Laufe der voranschreitenden Transition in „Osteuropa“ gewann zunehmend Brzezinskis Metapher an Bedeutung, die besagte, dass „building a house is not the same as establishing a home“25  und derzufolge es neben der Herausbildung von Institutionen  gerade auch darauf ankäme, zivilisatorische Kompetenz  zu entwickeln, d.h. ein komplexes Regelwerk an Werten, Normen und Umgangsformen herauszubilden, die als Vorbedingungen gelten für eine moderne Zivilisation. Das statische Minimalkonzept von „Demokratie“ wurde durch den Prozess der „Demokratisierung“ abgelöst. Nicht mehr die Institutionen und ihre Verfahrensregeln bestimmen die Demokratie, sondern der Grad ihrer Konsolidierung, d.h. die Internalisierung ihrer Werte.  Es ist nicht mehr in erster Linie wichtig, dass demokratische Institutionen gegründet werden, sondern dass die attitüdialen Handlungsformen aller politisch relevanten Akteure (Mesoebene) innerhalb dieser Institutionen grundlegende Normen nicht nur imitieren , sondern dass es gelingt, innerhalb möglichst kurzer Zeit  den demokratischen Regeln auch zu entsprechen und somit die demokratischen Institutionen kontinuierlich zu reproduzieren.26

Durch die Herausbildung einer autonomen Zivilgesellschaft soll die Konsolidierung in einem zweiten Schritt auch „beglaubigt“ werden  und schließlich auf dem Vertrauen ihrer Bürger gründen (Mikroebene). Organisationen und Institutionen sollen dabei einen „Vertrauenskredit“, und somit durch die „vorübergehende Entlastung von unmittelbarer sozialer Kontrolle“27  Handlungsspielraum erhalten. Solange dies nicht erreicht ist, sei der Weg zur demokratischen Gesellschaftsordnung verstellt, diese somit noch nicht erreicht.  Zu diesem Zweck fordern Transformationsforscher in umfassenden Konzepten demokratischer Konsolidierung eine Neudefinition der nationalen Identität, ein Löschen staatskritischer Elemente aus dem kollektiven Gedächtnis „osteuropäischer“ Staatsbürger.28  Eine solche Forderung an neuentstandene Demokratien postkommunistischer Gesellschaften zu stellen, konstatiert das Ergebnis langjähriger Demokratiepraxis als ihre Voraussetzung.

Vor dem Hintergrund dieses gewandelten Verständnisses von Demokratie als Prozess ist die Arbeit der OSZE und die des Hohen Kommissars zu sehen, die die Förderung der Demokratie als essentiell betrachten. Bereits das Kopenhagener Dokument definierte die pluralistische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dezidiert als Vorbedingung für die Garantie von Menschenrechten und einer „lasting order of peace, security, justice and co-operation“.29  In krisengefährdeten Regionen sind mit den Verpflichtungen der KSZE-Dokumente der frühen neunziger Jahre Situationen entstanden, in denen es zum Aufbau einer demokratischen Kultur, zur Gewährleistung von Menschen- bzw. Minderheitenrechten nötig wurde, in den Gesellschaftsstrukturen der Staaten selbst und mit den dortigen Akteuren zu arbeiten.

Für sein Amt betonte Max van der Stoel, dass effektive demokratische Institutionen in ihrer Bedeutung für den Minderheitenschutz nicht zu überschätzen seien , und dass Konfliktprävention im Rahmen der OSZE im breitesten Sinne zu verstehen sei. Seine enge Verknüpfung mit der Menschlichen Dimension rührt daher, dass er zur Erfüllung der ihm übertragenen Aufgaben an die „elimination of the potential causes of conflict“30  gehen muss, da er sein Mandat zwar vorrangig zur ‚short term conflict prevention’ zählt, gleichzeitig aber eingesteht, dass er „cannot pass by the important longer term aspects“, d.h. „creating confidence between the government and the population and groups within the population, […] structuring the protection and promotion of human rights, and […] fostering tolerance, understanding and mutual acceptance in society“.31  Die Aufgabe des Hohen Kommissars ist somit, durch die Bearbeitung konfliktträchtiger Minderheitenproblematiken auf der Meso- und Mikroebene zu einer erfolgreichen Demokratisierung der Staaten beizutragen. Für diese direkte Involvierung in der Innenpolitik eines Staates hat Max van der Stoel eine Arbeitsmethodik entwickelt, die genügend sensibel ist, um Konflikte mit Akteuren in den Staaten nicht zu provozieren.

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21 Max van der Stoel: Minderheiten, Menschenrechte und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. In: Migration und Flucht. Aufgaben und Strategien für Deutschland, Europa und die internationale Gemeinschaft. Hg. v. Steffen Angenendt. Bonn: 1997. (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 342) S. 258-263, S. 259; Max van der Stoel: „Democracy and Human Rights. On the Work of the OSCE High Commissioner on National Minorities of the OSCE”. In: ders.: Peace and Stability for Human and Minority Rights. Speeches by the OSCE High Commissioner on National Minorities. Hg. v. Wolfgang Zellner, Falk Lange. Baden-Baden: 1999. (Democracy, Security, Peace; 126) S. 133-139, S. 133.
22 Zur „dritte Welle“ der Demokratisierung zählen alle jene Länder, die seit dem Systemwandel in Portugal im April 1974 die Demokratie anstreb(t)en (vgl. Samuel Huntington: The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century. Norman, London: 1991
, S. 16).
23 Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. 6. Aufl. Aus dem Englischen Susanne Preiswerk. Tübingen: 1987. (UTB; 172)
, S. 392, 428f, 452.
24 Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? Aus dem Amerikanischen H. Dierlamm, U. Mihr, K. Dürr. München: 1992,
S. 11.
25 Piotr Sztompka: The Year 1989 as a Cultural and Civilizational Break. In: Communist and post-Communist Studies 29 (1996), H. 2. S. 115-129,
S. 117. [Hervorhebung im Original]
26 vgl. Guillermo O’Donnell: Illusions About Consolidation. In: Journal of Democracy 7 (1996), H. 2. S. 34-51, 
S. 41; Richard Gunther, P. Nikiforos Diamandouros, Hans-Jürgen Puhle: Introduction. In: The Politics of Democratic Consolidation. Southern Europe in Comparative Perspective. Hg. v. Richard Gunther, P. Nikiforos Diamandouros, Hans-Jürgen Puhle. Baltimore, London: 1995. S. 1-32, S. 7; Mary Kaldor, Ivan Vejvoda: Democratization in Central and East European Countries. In: International Affairs 73 (1997), H. 1. S. 59-82, S. 62.
27 Piotr Sztompka: Vertrauen: Die fehlende Ressource in der postkommunistischen Gesellschaft. In: Politische Institutionen im Wandel. Hg. v. Brigitta Nedelmann. Opladen: 1995. (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie; Sonderheft 35/1995) S. 254-276
, S. 260; die Forderung nach „trust in public institutions“ auch bei John D. Nagle, Alison Mahr: Democracy and Democratization. Post-communist Europe in Comparative Perspective. . London, Thousand Oaks, New Delhi: 1999, S. 232; ebenso Richard Rose: Postcommunism and the Problem of Trust.
28 Geoffrey Pridham: Confining Conditions and Breaking with the Past: Historical Legacies and Political Learning in Transitions to Democracy. In: Democratization 7 (2000), H. 2. S. 36-64,
S. 44; Claus Offe erkennt zwar an, dass die Vergangenheit weder geändert noch ungeschehen gemacht werden kann, stellt aber dennoch fest, dass „ideally, all relics, memories and conflicts should be eliminated which hinder the emergence and consolidation of certain qualities of public life” (Claus Offe: Varieties of Transition. The East European and East German Experience. Cambridge: 1996, S. 92).
29 CSCE: Second Conference on the Human Dimension of the CSCE. Copenhagen, 5 June-29 July. Document of the Copenhagen Meeting of the Conference on the Human Dimension of the CSCE.
30 Max van der Stoel: „In Trying to Perform My Task, I Am Making Enemies”. Speech to the OSCE Parliamentary Assembly, 5 July 1996, Stockholm, Sweden. In: ders.: Peace and Stability for Human and Minority Rights. Speeches by the OSCE High Commissioner on National Minorities. Hg. v. Wolfgang Zellner, Falk Lange. Baden-Baden: 1999. (Democracy, Security, Peace; 126) S. 123-126,
S. 124.
31 Max van der Stoel: „Human Dimension Commitments Are Matters of Direct and Legitimate Concern to All Participating States”. Intervention at the CSCE Human Dimension Implementation Meeting, 28-29 September 1993, Warsaw, Poland. In: ders.: Peace and Stability for Human and Minority Rights. Speeches by the OSCE High Commissioner on National Minorities. Hg. v. Wolfgang Zellner, Falk Lange. Baden-Baden: 1999. (Democracy, Security, Peace; 126) S. 49-54,
S. 51f.